Polen und Deutschland im modernen Europa
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Workshop: Erinnerungskultur in Deutschland und Polen, 19.-23. März 2012 in Darmstadt

In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Polen-Institut Darmstadt fand der erste Theorie- und Methodenworkshop des transnationalen und interdisziplinären Promotionskollegs „Polen und Deutschland im modernen Europa“ statt. Vier Tage lang sprachen und diskutierten die Doktoranden des internationalen Promotionskollegs und mehrere deutsche und polnische Wissenschaftler zum Thema der „Erinnerungskultur in Deutschland und Polen“. Schnell war klar, dass eher von „Erinnerungskulturen“ gesprochen werden müsste, um der Vielschichtigkeit dieses Phänomens in modernen Gesellschaften gerecht zu werden.100_0522 Vorrangiges Ziel des Workshops war die methodische und theoretische Reflexion zu einem immer noch aktuellen kultur- und sozialwissenschaftlichen Thema, das die Doktoranden der verschiedenen Disziplinen verbindet und ihnen die Möglichkeit bietet, ihre eigenen Studien dazu in Beziehung zu setzen. Weitere Ziele waren der internationale und interdisziplinäre Gedankenaustausch, die Vernetzung sowie Verflechtung verschiedener nationaler Diskurse und das Zusammenwachsen eines persönlichen sowie wissenschaftlichen Beziehungsgeflechts. Bereichert wurde dieser Workshop durch die Teilnahme von internationalen und interdisziplinären Wissenschaftlern aus den Sozial- und Kulturwissenschaften und durch Mitarbeiter des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt (DPI). Der Workshop fand im DPI statt und bot so mit seiner Lage auf der Mathildenhöhe eine außergewöhnliche Arbeitsatmosphäre.

Nach einer Begrüßung durch Prof. Dieter Bingen, Direktor des DPI‘s, Dr. Peter-Oliver Loew (DPI) und Dr. Anna Jakubowska, Koordinatorin des internationalen Promotionskollegs hielt Prof. Dr. Martin Aust (München) zum Einstieg in den Workshop einen multimedialen Vortrag zum Thema „Geschichte im Kino. Das polnisch-ukrainisch-russische Verhältnis im Historienfilm seit 1989“. In diesem Vortrag mit mehreren Filmbeiträgen diskutierte er anhand der Kosakenaufstände in polnischen, ukrainischen und russischen Filmproduktionen die Verflechtung gemeinsamer Erinnerungen. Ziel war es, eine „Gedächtnisgeschichte der drei Länder im Dreiecksverhältnis“ zu präsentieren und mittels dieses Ansatzes Antwort darauf zu geben, wie es zur Aushandlung von ukrainischer Geschichte kommt. Die Bezugnahme und Abgrenzung auf gleiche literarische Stoffe und historische Kontexte veranschauliche, wie diese Filme die ukrainische Geschichte unterschiedlich rekonstruierten und diese in Beziehung zu ihrer eigenen Nationalgeschichte setzten.

100_0528Dr. Anna Jakubowska (München) und Dr. Peter-Oliver Loew (Darmstadt) leiteten am zweiten Tag den Workshop mit einer Diskussion zur Theorie des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskulturen ein. Unter Zuhilfenahme der Texte im Reader diskutierten die Teilnehmer zentrale  Konzepte und Elemente der Theorie. Zentral hierfür waren vor allem die Klassiker: so u.a. Maurice Halbwachs, Pierre Nora und mittlerweile auch zum Klassiker gewordene Texte von Aleida und Jan Assmann, die maßgeblich zur Wiederentdeckung des Begriffs des kollektiven Gedächtnisses im deutschsprachigen Wissenschaftsraum beigetragen haben. Wegen des deutsch-polnischen Workshopcharakters wurde verstärkt ein Augenmerk auf polnische Klassiker einer Gedächtnistheorie gelegt. In diesem Zusammenhang wurden die Texte von Stefan Czarnowski und Nina Assorodobraj gelesen und diskutiert, die gleichzeitig wie Halbwachs eine Theorie des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskultur entwarfen, ohne diese Begriffe zu nutzen. Im Anschluss an diese beiden Autoren wurde vor allem die Frage diskutiert, ob die Vergangenheit eine Last ist, wenn sie nicht beschrieben werden könne. Auch interessierte die Teilnehmer die Frage, ob es in Ostmitteleuropa eine besondere Neigung zum Erinnern gäbe. Schließlich prüften und diskutierten die Teilnehmer anhand neuerer Texte zur Erinnerungskultur, wie das Konzept der Erinnerungskultur in der Forschungspraxis umgesetzt werden könne.

100_0519Nach der gemeinsamen Mittagspause hörten die Teilnehmer zwei Vorträge. Zum einen trug Prof. Dr. Ireneusz Paweł  Karolewski vom Willy-Brandt-Zentrum (Breslau/Wrocław) zum Thema „Theorieansätze des Nationalismus und Erinnerungspolitik“ vor und zum anderen Prof. Dr. Ansgar Nünning (Gießen) mit dem Titel „Reisende Theorien, Metaphern und Narrative: Komplexität, Risiken und Chancen von Konzept und Kulturtransfer“. Mit diesen beiden Vorträgen wurde gleichsam der enge thematische Rahmen des Workshops zu Gunsten einer soziologischen Gesamtperspektive und einer methodologischen Reflexion aufgebrochen.

Anhand von Nationalismustheorien und -Konzepten arbeitete Prof. Karolewski den Zusammenhang zwischen politischen Gemeinschaften mit ihrem Bedürfnis nach Identität und Erinnerungen heraus. Gemeinsam sei diesen Theorieansätzen zum Nationalismus die Hervorhebung einer politischen Einheit, welche einen gemeinsamen Erinnerungskern besitze. Dieser kann aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise generiert werden. Gemeinsam sei diesen verschiedenen Theorien wiederum der Einsatz symbolischer Mittel.

100_0511Im Folgenden erlebten die Teilnehmer einen erstaunlichen und beeindruckenden Vortrag von Prof. Nünning zu „Travelling Concepts“. In diesem Vortrag stellte Prof. Nünning nicht nur sein in Gießen betriebenes interdisziplinäres und transnationales Forschungskonzept vor, sondern gleichzeitig reflektierte er gemeinsam mit den Teilnehmern in einem weiten theoretischen Rahmen die erkenntnistheoretischen Prämissen von wissenschaftlicher Arbeit: welche geistigen Konstruktionsprozesse führen wir durch, wenn wir forschen? Was machen wir, wenn wir forschen? Und was erschaffen wir mit unserer Forschung? Prof. Nünning plädierte in seinem Vortrag für eine Anschauung des verfahrens- und funktionsorientierten Konstruktivismus. Erkenntnisbringend sei noch nicht, dass alle unsere Wahrnehmungen, Deutungen und Klassifikationen konstruiert seien, sondern wissenschaftlich gewinnbringend werde ein konstruktivistischer Ansatz dann, wenn er nach den Verfahrensweisen und Funktionen der Konstruktionen frage. Prof. Nünning schlug vor, nach den „kulturellen Weisen der Welterzeugung“ zu fragen. Dabei stellten Theorien, Konzepte, Metaphern und Narrative eine zentrale Rolle im wissenschaftlichen Forschungsprozess dar. Denn nur mittels diesen kommunizieren wir unsere Forschungsergebnisse und treten bereits an die Phänomene und Probleme unserer Wirklichkeit heran. Der Forschende ist also immer schon eingebunden in ein dichtes Geflecht von Theorien, Konzepten, Metaphern und Narrativen. Prof. Nünning schärfte mit diesem Vortrag noch einmal den methodologischen Blick aller Teilnehmer für ihre Forschung.

100_0516Der Vormittag des dritten Tages stand im Zeichen der Präsentationen der Kollegiaten. In einem ersten Reigen stellten unter der Moderation von Prof. Aust und Prof. Karolewski Sophie Straube (München), Dorothea Traupe (München) und Jonas Grygier (München) ihre Arbeitsergebnisse vor.

Sophie Straube fragte anhand des Beispiels des Hambacher Fests in ihrem Vortrag „Deutsch-polnisches Erinnern einmal anders? Zur Konjunktur der vormärzlichen deutschen Polenfreundschaft in der deutsch-polnischen Versöhnungsrhetorik seit 1989“ nach den Bedingungen und Möglichkeiten eines transnationalen Erinnerungsortes. Sie konnte plausibel darlegen, in welchen Konjunkturen sich Akteure auf dieses historische Ereignis beziehen und welchen wichtigen kommunikativen Charakter es für eine sich verflechtende Erinnerungskultur spiele. Das ständige, wechselseitige Bezugnehmen auf dieses Ereignis verliehe dieser Erinnerung einen transnationalen Charakter.

Dorothea Traupe ging in ihrem Referat „Gedenken an gefallene Soldaten in Deutschland und Polen“ der Frage nach, ob eine Gesellschaft überhaupt „kollektiv trauern kann“. Während ihres Vortrages reflektierte sie in einer zeitlichen Längs- sowie Querschnittsbetrachtung sowohl den deutschen als auch polnischen Umgang mit verstorbenen Soldaten. Zwei überzeitliche Leitmotive schälte sie als unterscheidbare Formen des Gedenkens heraus: „Sacrifice“ und „Victim“. Die Erinnerungsorte, d.h. Orte, an denen der Verstorbenen gedacht wird, haben aber nicht nur einen ästhetischen Wandel durchgemacht, sondern auch einen symbolischen. Ihr Fazit ist, dass Soldatengedenken eng mit der Idee der kollektiven Identität verknüpft ist und mittels Formen der ritualisierten Schuld politische Legitimation erzeugen soll.

Jonas Grygier verglich in seinem Vortrag „(Historisches) Erinnern in deutschen und polnischen Geschichtslehrbüchern – ein kontrastiver Vergleich von Erinnerungskulturen beider Länder“ deutsche und polnische Lehrbücher für das Fach Geschichte. Er ging zwar davon aus, dass Geschichtslehrbücher einen Ausschnitt der nationalen Erinnerungskultur wiedergeben, aber sie alleine seien keine ausreichend repräsentative Quelle für Erinnerungskultur oder Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft. In diesem Vergleich identifizierte er sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen den Schulbüchern. Am signifikantesten sei die Erkenntnis, dass die untersuchten Lehrbücher das Thema Vertreibung stark verkürzt behandelten und in teilweise falschen Zusammenhängen präsentierten.100_0529

Am Nachmittag erhielten die Teilnehmer die Gelegenheit zum Gespräch mit Prof. Dr. Robert Traba, dem Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin der PAN (Polska Akademia Nauk / Polnische Akademie der Wissenschaften). Anlässlich des von ihm und Hans-Henning Hahn herausgegebenen ersten Band „Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Parallelen“ wurde das Konzept der Erinnerungsorte diskutiert. Im Laufe der Diskussion erhielten die Teilnehmer auch einen profunden Einblick in die Entstehungsgeschichte und das Forschungsvorhaben der „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“.

Im Zusammenhang mit einer öffentlichen Veranstaltung des DPI’s nahmen die Teilnehmer an einer Lesung und Diskussion mit Prof. Traba zur Präsentation des neuen Polen-Jahrbuches mit dem Titel „Regionen“ teil.

Am dritten Tag stellten unter der Moderation von Prof. Aust und Prof. Karolewski Katharina Aubele (München), Mateusz Matuszyk (Breslau/Wrocław) und Iwona Łatwińska (Breslau/Wrocław) ihre Arbeiten vor.

100_0539Katharina Aubele knüpfte mit ihrem Vortrag „Vertreibungsdiskurs und Erinnerungskultur in Deutschland und Polen“ an ein hochaktuelles Thema an. Im Mittelpunkt ihres Referates zum Vertreibungsdiskurs standen zum einen die Geschichte seiner Erinnerungskultur und zum anderen seine Akteure. Es sei, so Aubele, zwingend notwendig die „Akteure und Plattformen des Diskurses“ zu rekonstruieren, da der Diskurs nicht von allen Betroffenen geführt werde. Nach einer Begriffsunterscheidung (z.B. „Vertreibung“) und Kategorisierungen („Vertreibung als Genozid“) gab sie einen Einblick in den Vertriebenendiskurs der BRD, DDR, im wiedervereinigten Deutschland sowie in Polen. Die Vertriebenenverbände ständen heute vor der Aufgabe, die Erinnerungen vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis zu überführen.

Mateusz Matuszyk ging in seinem Referat „Deutsche Erinnerungsorte in Wrocław. Umgang mit einem schweren Erbe“ der Frage nach, welche Rolle die ‚deutschen‘ Erinnerungsorte in einer aktuell polnischen Umwelt haben. Am Beispiel der Jahrhunderthalle zeigte er den Wandel aber auch die emotionalen Diskussionen in einer Stadt mit einem kulturell geteilten Erbe auf. So habe die Jahrhunderthalle nicht nur eine Zeit des Ignorierens (in der Sprache des Erinnerungsdiskurs des Vergessens) erlebt, sondern auch eine Phase der kulturellen Wiederaneignung. Dieser Prozess sei aber kein geradliniger gewesen, sondern habe auch zu enormen Spannungen innerhalb der Stadtbevölkerung geführt.

100_0532Zum Schluss trug Iwona Łatwińska zum Thema „Gedenken an den Warschauer Aufstand“ vor. Anhand einer üppigen Vielzahl an unterschiedlichen kulturellen Artefakten und Bereichen, von Museum, Film bis Mode, untersuchte sie, wie und mit welchen Intensitäten der Warschauer Aufstand in der polnischen Gesellschaft verhandelt wird. Dabei konnte sie die These erhärten, dass die Erinnerung an den Warschauer Aufstand gegenwärtig nicht nur einen neuen Aufschwung erfährt, sondern zugleich in seinen Bewertungen in einen heroischen Sinnzusammenhang gestellt wird. Dabei lasse sich dieser erinnerungspolitische Rückgriff nicht eindeutig politischen Gruppen zuordnen, vielmehr scheine er in der Gesellschaft tief verankert zu sein.

In der zweiten Tageshälfte des Workshops kam es zur Abschlussdiskussion. Neben der Zusammenführung aller Projektpräsentation, der abschließenden Diskussion zum Konzept der Erinnerungskultur und des kollektiven Gedächtnisses werteten die Teilnehmer auch den Workshop unter methodischen und formalen Gesichtspunkten aus.

100_0544Der viertägige Workshop „Erinnerungskultur in Deutschland und Polen“ brachte für alle Seiten neue, fruchtbare und spannende Ergebnisse, die über den reinen Erkenntniswert hinaus die Zusammenarbeit deutsch-polnischer Nachwuchswissenschaftler förderte und auf ein solides Fundament stellte. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung dieses Workshops für das Denken und die Forschungspraxis. Die jungen Wissenschaftler werden dank dieses Workshops und weiterer solcher Theorie- und Methodenseminare den Fachdiskurs des jeweils anderen Landes besser kennenlernen und damit rezipieren können. Das ist einer der elementaren Bausteine für das, was Prof. Nünning während des Workshops als „Travelling Concepts“ bezeichnete. Der „Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung“ muss an dieser Stelle dafür ein ganz herzlicher Dank ausgesprochen werden, dass sie solche Projekte fördert, deren Wert sich nicht sogleich ablesen lässt, die aber von elementarer Bedeutung für eine vernetzte (Wissenschafts-) Welt sind.

Bericht: Jonas Grygier
Fotos: Anna Jakubowska

Programm (PDF 69 KB)

Der Workshop wurde aus Mitteln der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung gefördert.

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